18. Juni 2015

Die Wiederkehr des Immergleichen – Gedanken zum Stillsein

Von Steven Anthropos

Wieder ein Besuch zuhause, zurück in die Gegend, die ich verließ, um in die weite Welt aufzubrechen und die Vergangenheit hinter mir zu lassen. Zwar erstreckte sich die weite Welt zuerst lediglich auf das gleiche Bundesland, doch waren hier schon hundertmal mehr Menschen wohnhaft. Ob ich nun von der Thüringer „Großstadt“ oder von Wien zurückfahre, eines bleibt gleich: Der Gedanke sich mit stereotypen und menschenfeindlichen Argumenten auseinandersetzen zu müssen, denen man sich sonst entziehen kann. Ist es nur die selbstgewählte Geborgenheit des Elfenbeinturms, in dem ich mich bewege und die mich sensibilisiert? Sind die Sprüche gar nicht so schlimm, die an den provinziellen Stammtischen geklopft werden? Bausche ich das ganze Thema nur künstlich auf?

Es waren einmal die lieben und tüchtigen SS-Männer an der Ostfront…

Zuhause ist es ja doch ganz schön. Die Wäsche muss ich nicht selbst waschen, irgendjemand sorgt für einen reichhaltig gedeckten Tisch und der anfallende Abwasch wird durch die Spülmaschine, statt mühselig per Hand, gereinigt. Ein bisschen hat es etwas von Urlaub, wären da nicht die Stammtischpolitproleten, die mir aus meiner Jugend so vertraut sind. Der Gedanke schießt mir in den Kopf: „Warum ging ich wieder auf die Bitte meines Vaters ein, ihn auf ein Bier zu begleiten?“ Zu Beginn ist alles noch ganz angenehm, doch offenbart sich die Wut des kleinen Mannes umso unerbittlicher, je mehr Alkohol aus den Gläsern in die Rachen gestürzt wird. Die Mär von „denen da oben“, so beginnt es meist, die „uns“ ausbeuten, bestehlen und/oder uns einfach nicht verstehen. Damit ertönt der erste Schlag im Kampf „alkoholisierte Ideologie vs. Geschichte“. Da erstehen die einst gepaukten Klassenkampfparolen der DDR wieder auf und feuern heftig gegen den Bug des westlichen Kapitalismus. Die Bananen und die Reisefreiheit, alles Mumpitz, „früher ging es uns doch allen besser.“ Nach einer weiteren Runde Bierchen und Schnäpschen dreht sich die Uhr schneller rückwärts – Runde zwei: der Nationalsozialismus. „Ich verstehe nicht, warum noch heute so auf den Soldaten rumgehackt wird“, schallt es über den Tresen. Und weiter: „Mein Vater war selbst an der Ostfront. Er war bei der SS.“ Nun kann ich nicht mehr an mich halten und wage es – trotz besseren Wissens, da Diskussionen nun völlig sinnlos sind – zu intervenieren. Ich erzähle von den Taten der Einsatzgruppen: Massenexekutionen, niedergebrannte Dörfer und die Versklavung aller als „minderwertig“ befundenen. Der Singsang der betäubten Zunge und das in Erregung geschüttelte Bierglas untermalen die lakonische Antwort: „Die hatten ja Befehle.“ Eine Zeit versuchte ich noch entgegenzuhalten. Sprach von der Ideologie, die alles – zu Gunsten des einen, als geheiligt empfundenen Volkes, mitsamt dessen Führer – zu vernichten drohte, von historischen Untersuchungen, die Befehlsnotstand ausschlossen etc. Dann entzog ich mich der aufgeheizten Atmosphäre.

Opfer und Täter, das kann man ja mal verwechseln.

Am nächsten Tag denke ich über die Situation nach. Den Vater – Identifizierungsobjekt und Familienoberhaupt – der immer da war, wenn es brenzlig wurde, ihn hatte ich als einen der Täter oder zumindest Mittäter entlarvt. Das löst so einiges, was nie angesprochen wurde. In Westdeutschland kam die Aufarbeitung erst mit Fritz Bauers (et al) Bemühungen um die Auschwitzprozesse und der `68-Bewegung in Gang. In Ostdeutschland war, mit dem Erblühen des DDR-Sozialismus, per definitionem das ganze Volk buchstäblich über Nacht antifaschistisch geworden. Die Alten erzählten nicht von ihren Erlebnissen und die Jungen wuchsen mit neuem Sinnbild und System auf. Die Shoa war Geschichte, die Zukunft lag vor ihnen. Was in den Köpfen hängen blieb war, dass ja nicht alles schlecht war, ja gar nicht sein konnte. Denn dann wären auch die Eltern, die zumeist mitgewirkt oder zugeschaut haben schlecht. Die Ideen von Volk und Nation, auf die man sich nach wie vor bezog, wären fragwürdig. Und man selbst könnte nicht mehr so gut Opfer sein und gegen die Raffenden, Gierigen und Heuchlerischen dort oben hetzen. Man müsste selbst Verantwortung übernehmen und lernen aus dem, was geschehen ist und was tagtäglich geschieht. Man wäre gezwungen zu differenzieren und nicht im Schema von wir gegen sie zu verweilen. Meist finden sich, statt einer kritischen Distanz und Reflexion zu eigenen Ressentiments und den geliebter anderer, Schuldabwehr und Täter-Opfer-Umkehr.

Das Falsche im Falschen verhindern.

Nun fahre ich bald wieder zu meinen Eltern, wieder in das kleine Thüringische Dorf, in dem der Stammtisch steht. Ein Stammtisch, wie es ihn in so vielen Orten gibt; nicht nur in den kleinen beschaulichen im Gebiet der ehemaligen DDR, sondern auch im einstigen Westen, in den großen Städten und auch hier in Österreich. Gespräche, die so oder ähnlich verlaufen schmerzen, kränken und machen wütend, wenn man sich dessen bewusst ist, was eine solche Ideologie für Ziele hat und welche Mittel sie dafür einzusetzen bereit ist. Man möchte sich diesen Situationen entziehen, im elfenbeinernen Turm ruhig schlafen, sich seinen Gedanken widmen. Um des Friedens willen könnte man auch ruhig sein und nicht widersprechen. Doch dann überlässt man den Populisten, Ideologen und Geschichtsrevisionisten die Deutung; dann werden sich die sogenannten National befreiten Zonen verfestigen und ausbreiten, zudem wiegt sich auch die heranwachsende Generation im postnazistischen Wonnewahn.

„Emanzipation heißt zu stören“, sagte kürzlich der Philosoph Jacques Rancière in Wien. Auch wenn nicht alle Missstände mit einem Mal beseitigt werden können, sind wir alle angehalten gegen Denkweisen aufzuklären, die die Freiheit des Einzelnen – und besonders die der ohnehin Benachteiligten – abschaffen wollen. Demokratie bedeutet nicht, sich zurückzulehnen, jede*r Einzelne muss Verantwortung übernehmen. Ob am heimischen Stammtisch, auf offener Straße oder in einem Blog, wir alle gestalten auf basaler Ebene die Gesellschaft mit, die wir uns vorstellen – durch Schweigen, Mitmachen oder Kontra geben positionieren wir uns stets.

Zuerst erschienen bei: fischundfleisch.com

Mit freundlicher Genehmigung des Autors.