25. Januar 2015

Ich verstehe sie nicht!

Oder warum fünf Meter rollender ICE manchmal Deutschland sind.

Ein Reisebericht zur deutschen Gegenwart von Fabian Wichmann

Es ist halb acht, Montagmorgen, kalt und dunkel in Mitteldeutschland, als eine größere Familie in den ICE stieg. Dem Gesichtsausdruck des Mannes in der Reihe hinter mir – nennen wir ihn D. Michel – konnte man im Vorbeigehen entnehmen, dass ihm etwas missfiel. Der Grund für seinen entgleisenden Gesichtsausdruck war augenscheinlich eine Familie. Eine Familie, die offensichtlich eine größere Reise antrat, mit allem, was man dafür braucht, Kinderwagen, Koffer und Taschen. Nichts Besonderes eigentlich. Oder doch? Sie sprachen nicht unsere Sprache, was bei mehr als 7 Milliarden Menschen auf der Erde wiederum auch nichts Besonderes ist. Für D. Michel aber doch, denn er verstand sie nicht.

Im Waggon des ICE angekommen, suchten sie sich Ihre Plätze und verstauten ihr Gepäck, was nicht ganz geräuschlos von statten ging. Ein Umstand, der dem Mann – wohlgemerkt nicht im Ruheabteil sitzend –zunehmend zu stören begann. Derweil klingelten die Telefone andere Gäste und das Piepen von sich ankündigenden Nachrichten durchschnitt akustisch das Abteil. Hektisches Getippte auf Tastaturen von beschäftigten Geschäftsreisenden war zu hören und alle drei Minuten lief jemand durch den Gang zur Toilette. Der Zugbegleiter bat den Fahrgästen einen Kaffee an, sofern nicht gerade der Schaffner die Tickets kontrollierte. Und irgendwo berichtete jemand von seinem letzten Urlaub an der Ostsee. Das alles war normal für den Fahrgast eine Reihe vor mir auf seinem Gangplatz, von dem aus er die gesamte Situation im Blick hatte. Das gehört dazu, es war ihm bekannt, er verstand es. Aber diese Familie war all das nicht, obwohl sie nichts Anderes tat, als all die Anderen im Abteil – reden, stehen, laufen, sitzen und später schlafen. Aber bei ihr war ihm das fremd. Grummelnd bemerkte er im halb vollen Waggon: „Können die sich nicht verteilen?“.’

Eine ebenso sinnlose wie auch feindliche Bemerkung. Denn verteilen muss man sich als größere Familie in einem halb vollen Zug der Deutschen Bahn zwangsläufig, zumal sie ja im Begriff waren sich Plätze zu suchen. Er meinte aber offensichtlich, sie sollten sich auf den gesamten Zug verteilen. Denn noch mehr Angst als Fremdes, macht dem D. Michel viel Fremdes. Aber kaum war der Gedanke ausgesprochen setzte er auch schon nach und stellte fest: „Aber wenn man etwas sagt, ist man ja gleich…“, er stockte.

Ist man was? Fragte ich mich. Was ist er dann, fremdenfeindlich, spießbürgerlich, einfach nur ein klein karierter Bahnkunde, der seine Ruhe haben will oder letztlich doch fremdenfeindlich?

Ist er fremdenfeindlich, wenn er erwartet, dass sich „Fremde“ so zu benehmen haben, wie er es will?

Ist er fremdenfeindlich, wenn er unterscheidet, zwischen uns und denen?

Ist er fremdenfeindlich, wenn er andere Erwartungen an „die“ setzt, ihnen andere Rechte und Pflichten abverlangt?

Ist er fremdenfeindlich, wenn er seine Wahrnehmung und Beurteilung an ihrer Herkunft festmacht?

Ist er fremdenfeindlich, wenn er, bevor er darüber nachdenkt, ob er fremdenfeindlich ist, darüber nachdenkt, dass er nicht politisch korrekt sein könnte?

Die Antwort auf diese Frage machte ihm offensichtlich ebenfalls Angst, vielleicht weil ihm die nicht die Gedanken, wohl aber die Bezeichnung dieser als solche fremd war.

Ich kannte den Gast, der da zwei weitere Stunden – grummelnd, stöhnend und gestresst die Familie anschauend – hinter mir in der Bahn saß nicht. Aber er und der gesamte Waggon und damit auch ich, waren in diesem Moment die deutsche Gegenwart.

Es sind die zwei Aussagen: „Ich habe ja nichts gegen, aber…“ und „Ich bin ja nicht gegen, aber …“, die gerade in letzter Zeit gebetsmühlenartig aus den Mündern, sogenannter besorgter Bürger, zu hören sind. (Nämlich) immer dann, wenn es darum geht, in ihrer Nähe ein Asylbewerberheim einzurichten. Wir und die, Neid, Angst, Vorurteile, Unsicherheit und eine kultivierte Distanz gegenüber allem Fremden, bestimmen und schränken die Wahrnehmung ein. Die Realität der Betroffenen, die Realität der Flucht und die politische Realität geriet schon mal aus dem Blick, wenn man zu sehr auf sich schaut. Es ist die Realität derjenigen Menschen, die nach ihrer Flucht in Deutschland Sicherheit suchen. Die Realität, die unser Grundgesetz beschreibt und die Realität, in der sich jeder Deutsche im Jahre 2014 bewegt: eine Multikulturelle. All diese Realitäten haben, wenngleich mit Abweichungen, ein menschenwürdiges Leben als Ziel. Menschen flüchten nicht aus Langeweile. Sie ziehen auch nicht aus Böswilligkeit in dafür nicht ausgelegte Wohnheime in die Nachbarschaft von besorgten Bürgern, die sich von diesen nur allzu schnell subjektiv gestört oder bedroht fühlen. Aber – und das stimmt versöhnlich – es sind auch viele Menschen da, die nicht besorgt sind, sondern die sich sorgen. Sie sind es, die durch ihre Unterstützung und ehrenamtlichen Tätigkeiten versuchen den Blick auf das Ganze zu richten und konkrete Hilfe zu leisten, um ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.

Der Herr in der Bahn war allein und er sprach leise, aber nicht so leise, dass man ihn nicht verstehen konnte. Er verlieh – wohlgemerkt als Einziger – seiner Besorgnis, um die vermeidlich gefährdete Ruhe und Ordnung, deutlich Ausdruck, in dem er andere Fahrgäste auf das nicht sachgerecht abgestellte Gepäck der Familie hinwies. Nicht das andere Gäste sich durch das Gepäck der Familie, unbemerkt ebenfalls eingeschränkt oder gestört fühlen könnten, dachte er sich offensichtlich. So sehr gestört, dass er als besorgter und aufrichtiger Bürger die Stimme erheben musste – denn bei solchen Zuständen kann man sich schnell fremd in der eigenen Bahn fühlen. In einer Bahn, die mit mehr als 200 km/h durch Deutschland jagt, sitzt D. Michel und kreist um sich selbst. Wie erleichtert muss er sich gefühlt haben, als er endlich die Bahn verlassen konnte in seine deutsche Gegenwart, die eigentlich nicht anders ist, als diese rollenden fünf Meter ICE. Aber immerhin, sie bewegt sich nicht.

Auf meine Frage, was er denn nun sei, gab er mir keine Antwort. Vielleicht weil er in dieser Gesprächssituation nicht sein wollte was er schon voreilig gedanklich ausschloss: fremdenfeindlich. Abschließende Antworten auf meine gedanklichen Fragen an D. Michel, fand ich auf der restlichen Strecke auch nicht mehr. Vielleicht aber die Erkenntnis, dass er irgendwie alles war, dass fünf Meter rollender ICE manchmal die gesamte deutsche Realität sein können und das ich ihn nicht verstehen konnte.

Fabian Wichmann, ist Mitarbeiter der ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbH, dem Träger von EXIT-Deutschland und ist dort in der Ausstiegshilfe tätig.

Der Text wurde am 21. Januar 2014 unter www.exit-deutschland.de Erstveröffentlicht